10. Der Honeymoon-Hangover Effekt – Mein Umgang mit Hürden und Herausforderungen

September. Die Mango-Saison neigte sich dem Ende zu. Vor wenigen Wochen waren die Mango Preise pro Kilo auf 250 BDT (2.07 CHF) gestiegen. Ein kleines Vermögen, wenn man bedenkt, dass der Kilopreis Mitte Mai bei 50 BDT lag!

Die Diskussionen um die besten Mangos – Himsagar, Langra oder eine der über 200 weiteren Sorten – wurden abgelöst durch andere Themen, wie dem hohen Besuch aus Bern.

Nach den wunderschönen Ferien bedeutete das für mich auch den Wiedereinstieg in die Arbeit. Nach vier Monaten in Südasien war die Anfangseuphorie abgeflacht und die ersten realen Herausforderungen kamen ans Tageslicht. 

Man nennt diesen Effekt auch Honeymoon-Hangover Effekt: 

Honeymoon-Hangover Effekt (Phase 1-2) und das langsame einpendeln danach (Phase 3-5).
Obwohl, langsam? Bei mir ging das aufgrund des relativ kurzen Einsatzes und des vielen Neuen alles im Eiltempo – und war entsprechend anspruchsvoll.
Ich hätte mir definitiv gewünscht, von diesem Konzept bereits vor meinem Einsatz zu erfahren.

Wo endet mein Aufgabenbereich?

Mitte September fand das «Partnership Meeting» statt, ein Treffen aller Rot Kreuz und Rot Halbmond Vertretungen der Hauptzentralen, welche Projekte in Bangladesch umsetzten. Für uns in Cox’s Bazar bedeutete das: Hoher Besuch aus Bern. Unser Länderverantwortlicher und die Leiterin des Global Programms kamen für vier Tage zu Besuch nach Cox’s Bazar, bevor sie am Partnership Meeting in Dhaka teilnahmen. Natürlich wollten sie in dieser Zeit die Projekte besuchen, alles sehen und alles genau wissen. Die Vorbereitungen waren beträchtlich, die Anspannung hoch.

Ich durfte dem Länderverantwortlichen unser Abfallmanagementsystem in den Gemeinden rund ums Flüchtlingslager zeigen und erste Befunde meiner Business Modell Analyse vorstellen. Das Ziel der Analyse war es, den operationellen, Management- und Finanz-Teil des Abfallsystems in den Gemeinden ums Flüchtlingslager herum zu analysieren und Möglichkeiten zu erarbeiten, wie das Abfallprojekt von BDRCS und dem SRK in allen drei Teilbereichen optimiert werden konnte. Zudem ging es darum, konkrete Vorschläge zu entwickeln, wie das Abfallprojekt in Zukunft an die Gemeinden übergeben werden könnte, damit die Nachhaltigkeit gewährleistet blieb. Eine grosse Aufgabe!

Nach drei Monaten intensiver Recherchearbeit – inklusive Einleben, Ankommen in einer fremden Kultur und Kennenlernen des Humanitären Sektors – sollte ich nun endlich meine Analyse auch verschriftlichen … aber da gab es so viele Dinge, die ich entdeckte, die Verbesserungspotenzial aufwiesen. Am liebsten hätte ich gleich alles gleichzeitig angepackt. Aber wie? Und warum wurde das nicht schon früher gemacht? Meine spätere Einsicht: Weil das Projekt sehr komplex war und bereits an vielen Ecken und Enden das Bestmögliche getan wurde! Und zudem, war das überhaupt meine Aufgabe, und hatte ich das nötige Wissen dafür? Ganz klar: Nein. Meine Aufgabe war die Analyse!

Nach einem ziemlich stressigen und turbulenten September und einem ebenso unbefriedigenden Start in den Oktober, war es Zeit, etwas Ruhe und Klarheit ins System zu bringen.

Meine Vorgesetzte und ich nahmen uns viel Zeit, um noch einmal klarer zu definieren, was genau meine Rolle war, wo ich noch mehr Unterstützung brauchte, und insbesondere auch, was NICHT meine Aufgabe war. Dafür bin ich ihr sehr dankbar! Ich denke, wir haben in diesem ganzen Prozess beide viel gelernt. Ich verstand von da an viel besser, in welche Richtung ich steuern musste, was von mir erwartet wurde … und welche «headaches» ich mit gutem Gewissen meinen Kolleg*innen überlassen durfte. 

Meine Zuversicht und mein Selbstvertrauen bewegten sich zurück in den grünen Bereich. Die Begeisterung und das Feuer waren wieder da!

Eingliederung ins Team

Bei der Ankunft war ich freundlich in unser Team aufgenommen worden. Dennoch brauchte es mehrere Monate, um mir meinen Platz in demselben zu erarbeiten.

Ich kann nur ahnen, wie oft sich unser Programm-Manager mit über 20 Jahren Berufserfahrung zu Beginn fragte, weshalb ich überhaupt da war: Was ist ihr Mehrwert? Weshalb stellt sie immer so viele Fragen? Und diese Analyse, weshalb muss da jemand von aussen kommen für eine solche Analyse zum Abfallsystem?

Die Business Modell Analyse war ein Auftrag der DEZA (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit), die das Schweizerische Rote Kreuz machen musste. Statt für viel Geld eine*n externe*n Berater*in anzustellen, entschied sich das SRK, mich mit dieser Aufgabe zu betrauen. Eine win-win Situation. Ich lernte viel, sie sparten viel. 

Durch meinen Einsatz mit dem Outreach Team und der langsamen Entstehung der Analyse – sowie vielen Gesprächen zwischen unserer Vorgesetzten und dem Programm-Manager – stieg meine Akzeptanz.

Was mich besonders freute war, dass ich im Dezember zusammen mit unserem Programm-Manager einen 3-tägigen Workshop zu Abfallmanagement durchführen durfte. Zielpublikum waren von «field staff» bis «senior management» des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds. Wir teilten die Workshop-Planung und -Durchführung auf. Die Aussage des Programm-Managers: «Gut, Mirjam, du machst Deinen Teil, ich mache meinen. Und zusammen schaffen wir das!»

Freunde finden

Als Mensch in einem für mich fremden Land hätte ich mir gewünscht, mehr Freundschaften mit Bangladeschi zu schliessen. Eine grosse Hürde dabei war: Das Frau-Sein. Man muss sich vorstellen, dass es bei der Arbeit nur wenige Frauen gab, gefühlte (oder reale) 95% waren Männer. Somit war die Wahrscheinlichkeit, Freundinnen zu finden, sehr eingeschränkt. Da ich mich meist bei der Arbeit aufhielt und es in Cox's Bazar nicht viele Freizeitmöglichkeiten gab, führte das manchmal zu einem Gefühl der Einsamkeit. 

Hier ist es wichtig zu erwähnen, dass Einzelfreundschaften zwischen Mann und Frau in der Bengalischen Gesellschaft als Tabu betrachtet werden. Das galt sowohl für Männer wie auch für Frauen, für Bangladeschi wie auch für Ausländer*innen. Sollte es doch vorkommen, bestand die Gefahr, dass es zu «Getuschel» kam – oder gar zu Vorwürfen von Grenzüberschreitungen, kulturellem Fehlverhalten und vermuteten Übergriffen.

Da mir das zu Beginn nicht klar war, hielt mich meine Vorgesetzte beispielsweise vorausschauend davon ab, der Einladung eines BDRCS Mitarbeiters in Cox's Bazar zu folgen, der mich fürs Eid Al-Adha Fest zu seiner Familie hatte einladen wollen. Da nicht zu gehen und stattdessen auf persönliche Eid Entdeckungstour nach Dhaka zu gehen (vgl. Blogbeitrag 5) war kulturell betrachtet eine weise Entscheidung.

Diese Gepflogenheiten zu verstehen und zu akzeptieren brauchte allerdings seine Zeit – komme ich doch aus einer ganz anderen Kultur, wurde anders sozialisiert und suchte Anschluss.  

Auf einer bengalischen Hochzeit mit einer Arbeitskollegin, die später eine Freundin wurde.

Was kulturell als ausländische Frau hingegen einfacher war, waren Freundschaften mit Frauen. Und wenn diese Frauen befreundet waren mit einer Gruppe von Männern, z.B. einer Gruppe Arbeitskollegen, war die Hürde noch etwas tiefer, mit Frauen und Männern Zeit zu verbringen.

So kam es zu einigen schönen und unvergesslichen Erlebnissen wie gemeinsam einen Sari für eine Hochzeit zu kaufen (mehr dazu nächste Woche), Teerunden abzuhalten oder gemeinsam Mittag zu essen. 

Interessanterweise war die Hürde noch tiefer, als mich Lukas im Dezember besuchen kam (oder das Interesse an Lukas war einfach sehr gross :)). Da wurden wir innert zweier Wochen mehrmals zum Abendessen und zum Tee eingeladen.

Auch veranstalteten wir gemeinsam einen Guezliback-Abend mit einer Gruppe Freund*innen (ja, ich betrachtete diese Menschen mittlerweile, trotz aller Hürden, als Freund*innen). Den Ofen durften wir von einem Bekannten ausleihen. Der Abwart des Hauses wechselte extra für uns die Steckdose in der Küche, damit wir den Ofen überhaupt anschliessen konnten. Ein Beispiel faszinierender bengalischer kreativer Spontanität.

Die Guetzli verteilten wir am nächsten Tag bei der Arbeit. 

Guetzli backen

Mein Fazit: Auch wenn sehr viel für mich neu war - die Kultur Bangladeschs, die humanitäre Arbeit, Abfallmanagement im Globalen Süden – so lief es doch immer wieder auf dieselben zentralen Punkte heraus, um mit Hürden, Tiefs und Herausforderungen gut umzugehen:

Kommunikation, Anpassungsfähigkeit,
Offenheit, Durchhaltewille,
Problemlösungsfähigkeit und Menschlichkeit.

 

 

***Ich möchte mich an dieser Stelle besonders bei M. H. bedanken, mit dem ich diesen Blogbeitrag vorbesprechen durfte. Er hat mir als internationaler Mitarbeiter in der Humanitären Arbeit die «Männersicht» und die Schwierigkeiten als Mann in diesem Kontext nähergebracht. Auch bedanke ich mich bei allen, die mir während und nach dem Einsatz geholfen haben, mit diesen Hürden umzugehen und sie akzeptieren zu lernen.***

 

 

Nach diesen Tiefs und Herausforderungen werden wir uns nächstes Mal einigen Hochs zuwenden. Konkret werden wir uns in schönen Saris «wickeln lassen», zwei wunderschöne und farbenfrohe bengalische Hochzeiten und einen buddhistischen Tempel besuchen ... und am Ende wieder einmal auf einer Müllhalde landen.

 

 

Vielen Dank fürs Lesen und Euer Interesse. Solltet Ihr Fragen oder Anregungen haben, schreibt mir bitte oder hinterlasst einen Kommentar!


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Kommentare

sepp
Vor 25 Tage

Danke Miriam für deinen Blog. Es ist spannend zu lesen, wie es dir als Frau in einem Moslemischen Land ergangen ist.
Viele deiner Aussagen kommen mir bekannt vor. Mann / Frau ist ein Fremder und bleibt ein Fremder, auch wenn man sich langsam in der neuen Umgebung Kultur auskennt.
Herzlich
Sepp

Margrit Wenk-Schlegel
Vor 25 Tage

liebe Mirjam
spannend und anregend, wie transparent du schreibst und dich auch mit deinen persönlichen Prozessen, Wünschen und Enttäuschunge zeigst.
Ja, das Frau-Mann-Verhältnis ist in den verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich. Das haben wir auch bei unserem Einsatz in Kolumbien erfahren.
Danke.für deine Offenheit. Margrit

Andi
Vor 25 Tage

Spannend, Mirjam - sehr spannend. Die kulturellen Aspekte zu erkennen, zu verstehen und v. a. zu respektieren ist wohl unabdingbar für eine gute Zusammenarbeit - und das braucht Zeit, Sensibilität und Lernbereitschaft. Das transkulturelle Verständnis und das Sensorium für Menschen in und aus aller Welt wird Dich als bleibender Wert wohl stets begleiten. 👍 - Ein Gewinn fürs Leben!